Mit der neuen Technologie Deep Visual Proteomics lassen sich Krankheiten auf zellulärer Ebene besser verstehen und gezielter behandeln. Die Kombination aus Mikroskopie, KI-gestützter Bildanalyse und Massenspektrometrie eröffnet neue Perspektiven für Diagnostik und personalisierte Therapie – nicht nur in der Onkologie.
Heute ist es möglich, innerhalb von nur 20 Minuten den nahezu vollständigen Proteinbestand einer einzelnen menschlichen Zelle zu erfassen. Grundlage dafür ist eine Kombination aus empfindlicher Probenvorbereitung, leistungsfähiger Massenspektrometrie und ausgefeilter KI-gestützter Software. Mit der 2022 entwickelten Methode Deep Visual Proteomics (DVP) eröffnet sich eine weitere Dimension in Diagnostik und Therapie. Deep Visual Proteomics verbindet modernste Mikroskopie, künstliche Intelligenz und massenspektrometrische Analysen, um krankhafte Veränderungen auf zellulärer Ebene sichtbar zu machen. Das Verfahren erlaubt es erstmals, das Proteininventar einzelner Zellen in Gewebeproben vollständig zu analysieren und dabei zwischen gesunden und pathologisch veränderten Zellen zu unterscheiden. Zunächst werden Gewebeproben mit fluoreszierenden Markern versehen, die gezielt Proteine binden, die nur in Tumorzellen oder anderen erkrankten Zellen vorkommen. Unter dem Mikroskop lassen sich diese Zellen farblich unterscheiden. Eine KI-basierte Bildanalyse erkennt krankhafte von gesunden Zellen, woraufhin ein Laser einzelne Zellen ausschneidet und getrennt sammelt. Anschließend werden die Proteine aus den isolierten Zellen extrahiert, gereinigt und mit einem hochauflösenden Massenspektrometer analysiert.
Die daraus resultierende Proteinkarte gibt nicht nur Aufschluss über die Anwesenheit bestimmter Proteine, sondern auch über deren relative Häufigkeit. Damit lassen sich krankheitsrelevante Signalwege identifizieren – mit direkter Relevanz für die Therapie. Eine Studie konnte die Ursachen der toxischen epidermalen Nekrolyse (TEN) aufdecken, einer seltenen, aber potenziell tödlichen Nebenwirkung bestimmter Medikamente. Betroffene Patienten entwickeln zunächst einen Hautausschlag, der schnell zu großflächiger Blasenbildung und Hautablösung führt. In bis zu 30 Prozent der Fälle endet die Erkrankung tödlich. Mittels Deep Visual Proteomics zeigte sich, dass in den betroffenen Hautzellen der JAK/STAT-Signalweg massiv überaktiviert ist – ein Befund, der eine gezielte pharmakologische Intervention nahelegt. Tatsächlich existieren bereits JAK-Inhibitoren, die zur Therapie von Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder atopischer Dermatitis zugelassen sind.
Deep Visual Proteomics bietet einen bislang unerreichten Einblick in krankhafte Zellprozesse und ermöglicht es, maßgeschneiderte Therapien auf Basis konkreter molekularer Veränderungen zu entwickeln. Dabei ist der Einsatz keineswegs auf dermatologische oder onkologische Erkrankungen beschränkt. Auch für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer verspricht die Methode neue Erkenntnisse. Im Zentrum steht hier die Frage, warum bestimmte falsch gefaltete Proteine – wie das Beta-Amyloid – für Nervenzellen toxisch wirken. Deep Visual Proteomics könnte helfen, diesen Mechanismen auf den Grund zu gehen, indem es den Proteinstatus in einzelnen Neuronen sichtbar macht und mit gesunden Zellen vergleicht.
Besonders großes Potenzial liegt zudem in der Analyse des Bluts. Mehr als 5.000 verschiedene Proteine zirkulieren im menschlichen Blut – viele davon sind potenzielle Biomarker für bestehende oder sich anbahnende Erkrankungen. In Zukunft könnten regelmäßige Proteom-Screenings als Ergänzung zu klassischen Laborwerten dienen und präzise Hinweise auf entzündliche, metabolische oder neurodegenerative Prozesse geben – noch bevor klinische Symptome auftreten. Damit eröffnet Deep Visual Proteomics eine neue Ära in der Molekulardiagnostik. Der Anspruch, Krankheiten nicht nur auf organischer oder zellulärer Ebene, sondern auf molekularer Ebene zu erkennen und zu behandeln, rückt in greifbare Nähe. Für die medizinische Praxis bedeutet dies: präzisere Diagnosen, individuellere Therapien und potenziell bessere Behandlungsergebnisse. Für die pharmazeutische Forschung bietet die Methode neue Ansätze zur Zielstruktursuche, zur Wirkstoffentwicklung und für stratifizierte klinische Studien.
Die klinische Translation ist bereits in vollem Gange. Weitere Studien zur Wirksamkeit von JAK-Inhibitoren bei TEN sind geplant. Gleichzeitig beginnt die Integration von Deep Visual Proteomics in onkologische Studienzentren. Die Vision: ein Routinetool für molekulare Diagnostik, das komplementär zur Histopathologie und Genomik eingesetzt werden kann – aber deutlich präziser und potenziell patientennaher.
Quelle:
Lorenz-Meyer A. Proteine, die krank machen. In: Max Planck Forschung 1/2025, S. 64–67.
Online: https://www.mpg.de/magazin
Text: Redaktion arztCME
Bild: leonardo.ai für arztCME