Dieser Blog startete vor rund 10 Jahren als Add-on zum Buch Die Zukunft der medizinischen Information. Seitdem beleuchten wir das Thema aus vielen Perspektiven und in den letzten zwei Jahren gab es ein dominantes Thema: Wie KI die Medizin verändert.
Letzten Freitag (25. Oktober 2024) wurde SPON (SPIEGEL online) 30 Jahre alt und natürlich haben sich die Kolleginnen und Kollegen dort anständig selbst gefeiert. Das sei ihnen gegönnt, denn sie haben in dieser Zeit sicher mehr richtig als falsch gemacht. Was man nicht zuletzt darin sieht, dass es SPON so nicht mehr gibt. Der SPIEGEL ist mittlerweile ein Online-Medium und ab und an kauft auch noch einer das Heft.
Diese Entwicklung könnte auch die Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin nehmen. Just am Tag nach dem 30. Geburtstag erschien die Ausgabe 44/2024 mit der Titelgeschichte KI in der Medizin: Auf Heilung programmiert (Link). Und spätestens dann, wenn ein Thema es auf den SPIEGEL-Titel geschafft hat weiß man, dass es im Mainstream angekommen ist.
Der Beitrag beschreibt ein paar der klassischen Szenarien, die heute schon gängig sind oder demnächst vor der Tür stehen: Von der Beurteilung von Röntgenbildern und pathologischen Präparaten über den Hautkrebs-Diagnoseautomaten bis zum Empfangs-Roboter in der Notaufnahme, den laut SPIEGEL die Charité gerade testet. Verblüffend ist nicht die Themenbreite des Einsatzes, sondern die Geschwindigkeit, mit der sich gerade viele Dinge entwickeln.
Denn Tempo war ja über viele Jahre nicht gerade das Markenzeichen der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Im Vorwort des Buches hatten wir – anno 2015 – die Entwicklung der digitalen Medizin seit den 1990er-Jahren mit den verschiedenen Stufen der Eroberung des „Wilden Westens“ in den USA verglichen:
- Der erste Goldrausch (1995-2000)
- Die Pioniere werden massakriert (2000-2002)
- Die Eisenbahn durchquert den Kontinent (2002-2005)
- Der Streit ums Land (2005-2009)
- Der Westen wird schließlich doch besiedelt (2009-heute)
Die letzte Phase war 2015 mit 6 Jahren schon die längste und sie legte tatsächlich noch einmal 7 Jahre drauf. Bis 2022 lagen die Verbesserungen eher im Detail. Dann änderten die GPTs die Spielregeln grundsätzlich. GPT steht für Generative Pre-trained Transformer, ein Modell künstlicher Intelligenz, das Aufgaben im Bereich der automatisierten Verarbeitung natürlicher Sprache bewältigt.
Und da Medizin nun mal vor allem auf natürlicher Sprache beruht (Wo tut’s denn weh?) brach damit eine neue Phase an. Heute schießen Anwendungen wie Pilze aus dem Boden. Und die wissenschaftliche Community testet sie und veröffentlicht dann die Ergebnisse dieser Tests, was weitere Verbesserungen möglich macht.
In manchen Fällen werden GPTs eigens trainiert, aber schon die Standardversionen von ChatGPT & Co bringen erstaunliches zustande. Auf dem DGGG-Kongress 2024 in Berlin präsentierte ein Poster der Medizinischen Hochschule Hannover das Thema Künstliche Intelligenz in der gynäkologischen Onkologie – Evaluation der Therapieempfehlungen von ChatGPT für das Mammakarzinom.
Das war ein echter Reality-Check und die Autoren kommen zu dem Ergebnis: „Die generierten Empfehlungen für operative Therapie, Chemotherapie, Strahlentherapie und endokrine Therapie wurden im Mittel als korrekt mit geringen Einschränkungen evaluiert. Die HER-2-Antikörpertherapie wurde als einzige Kategorie mit korrekt ohne Einschränkungen bewertet. Übergreifend zeigte sich die Genauigkeit der Empfehlungen für Primärfälle höher als für Rezidivfälle, bei anteilig fehlerhaftem Einbezug der Vortherapien. Die Qualität der Ausgabe hing stark von der Präzision der Eingabeprompts ab. Fehlende Aktualität in den Leitlinien führte zusätzlich zu Unvollständigkeiten in den Vorschlägen.“ (Stalp JL et al. DGGG 2024, Poster 621).
Dass die Ergebnisse von den Prompts abhängen ist klar und fehlende Aktualität in Leitlinien kann man beim besten Willen nicht chatGPT anlasten. Das Beispiel zeigt daher für uns exemplarisch, wo die Reise in den nächsten Jahren hingehen wird. Natürlich gibt es noch viel Luft nach oben – ein Hauptproblem ist die Intransparenz. Der Chatbot hat immer eine Antwort, schweigt sich aber gerne darüber aus, wie er zu dieser Antwort kam. Und lügt sich mitunter das Blaue vom Himmel. Das ist nicht akzeptabel, weil viele Handlungen in der Medizin ja auch ethische und juristische Konsequenzen haben.
Trotzdem werden wir in den nächsten Jahren eine Umwälzung vieler Prozesse erleben. Die Veränderungen bis zum Ende des Jahrzehnts werden die seit Beginn des Jahrhunderts in den Schatten stellen. Es gibt viel zu tun – packen wir’s an.
Text: Reinhard Merz
Bild: midjourney für arztCME